Wie liest man eigentlich einen Roman? Was bei der Lektüre wichtig ist

Hans Magnus Enzensberger hat sich mal in einem seiner leicht bissigen Texte darüber lustig gemacht, dass „auf jeden Dichter schätzungsweise sechsundsechzig Pädagogen entfallen, die mit seiner Erforschung und Deutung beschäftigt sind.“ Das Zitat ist schon etwas älter; es stammt aus einem Text von 1986. Müsste man heute diese Zahl höher schätzen oder niedriger? Ich weiß es nicht – das tut aber auch nichts zur Sache. Enzensberger, selbst Dichter, spottet einfach über die zahllosen Deutschlehrer und Germanisten. Man solle sich doch mal vorstellen, wie hinter jedem Bäcker hundert Bäckereiwissenschaftler stünden, noch dazu öffentlich besoldet, heißt es weiter im Text.

Man muss dazu wissen, dass sich Enzensberger an anderer Stelle ausführlich darüber aufgeregt hat, dass Schülern an Schulen beigebracht werde, wie ein Gedicht zu interpretieren sei. Dass zur Einübung und Verfeinerung von Interpretationen „aus unbekannten Gründen eigens Wissenschaftler“ an Universitäten beschäftigt werden. Der Grund für seine abneigende Haltung gegenüber eingeübten Interpretierens ist sein Verständnis von Lektüre als anarchistischen Akt: „Wenn zehn Leute einen literarischen Text lesen, kommt es zu zehn verschiedenen Lektüren. Das weiß doch jeder“, schreibt er.

Enzensberger tut sich also generell schwer damit, dass es Institutionen und Autoritäten (Professoren) gibt, die selbsterklärt wissenschaftlich literarische Erzeugnisse definieren, erklären und: interpretieren. Mit der Weigerung, literarisches Interpretieren als sauberes wissenschaftliches Vorgehen zu akzeptieren, steht Enzensberger übrigens nicht alleine da. Er selbst zitiert z.B. Susan Sontag und ihren berühmten Essay Against Interpretation, in dem es um ähnliches geht. Die „Übersetzungsarbeit“, die mitunter Interpreten in ihren Aufsätzen über Literatur leisten, wird verspottet.

Intuitiv mag man schnell an Begriffe wie „Autorintention“ denken. Es gibt einen Text, einen literarischen, Lyrik oder Prosa. Versteckt in diesem Text wird von so manchem die vom Autor versteckte tiefere Bedeutung geargwöhnt. Diese Vorstellung aber ist naiv, weswegen sich (nicht nur) Enzensberger und Sontag damals darüber aufgeregt haben. Warum? Weil Literatur so viel mehr ist, als das, was sich der Autor beim Schreiben dabei gedacht haben mag. Möglicherweise verfolgte eine Schriftstellerin tatsächlich eine Intention mit ihrem Werk, gibt aber unbewusst noch 5 weitere Deutungsspektren an, die sie gar nicht vorgehabt hatte. Und was nun? Was ist jetzt die Intention der Autorin?

Gut auf den Punkt gebracht hat das einmal Marcel Reich-Ranicki, der in seiner Autobiografie eine Begegnung mit der Autorin Anna Seghers nacherzählt. Er war ein großer Fan ihres Romans „Das siebte Kreuz“ und fing an, sie über das Buch auszufragen, war aber von ihren Antworten enttäuscht. Irgendwann schießt ihm ein Gedanke durch den Kopf: „Diese bescheidene, sympathische Person, die jetzt in breiter Mundart gemächlich über ihre Figuren schwatzte, diese würdige und liebenswerte Frau hat den Roman ‚Das siebte Kreuz‘ überhaupt nicht verstanden.“ Diese Einsicht über das Verhältnis zwischen Schriftstellerin und Werk bringt Reich-Ranicki schließlich zu dem Satz, „(d)ass die meisten Schriftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie.“ Sie wüssten zwar in der Regel, was sie ungefähr zeigen und bewirken wollten. Doch trübe dieses Wissen „ihren Blick auf das, was sie tatsächlich geleistet und geschaffen haben.“ 

Doch auch, wenn wir einer wie auch immer gearteten Autorintention nur wenig Beachtung schenken, haben wir immer noch die Vorstellung, es gebe etwas, einen mehr oder weniger objektiven Inhalt, der zu erfassen sei. Können wir die so stehen lassen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass in der Lektüre eines literarischen Textes immer wieder neue Lesarten entstehen, nachdem er einmal den Lesern preisgegeben wurde. Denn (und hier kann man Enzensberger nur Recht geben): „In den Akt des Lesens gehen zahllos viele Faktoren ein, die vollkommen unkontrollierbar sind: die soziale und psychische Geschichte des Lesers, seine Erwartungen und Interessen, seine augenblickliche Verfassung (…)“ etc.

Das, was Literatur bedeutet, entsteht in der Lektüre. Und Leseintentionen, die sich freimachen vom Anspruch, die wahre Bedeutung eines Textes freilegen zu wollen – das sind erst die, die Spaß machen und wahrlich bereichern können.

Letzens ließ sich das live beobachten, als der erste Corona-Lockdown beschlossen wurde und die Verkaufszahlen von „Die Pest“ des französischen Schriftstellers Albert Camus nach oben schnellten. Als der Roman erstmals 1947 veröffentlicht wurde, gab es eine vorherrschende Lesart, nach der die von der Krankheit gebeutelte Stadt Oran, in dem die Handlung stattfindet, als Allegorie auf das besetzte Frankreich während des zweiten Weltkriegs verstanden wurde. Ich glaube nicht, dass damals irgendjemand, und am allerwenigsten der Autor, an Corona dachte. Aber das war den Lesern von 2020 herzlich egal. Die wollten was über einen Zustand lesen, in dem Menschen zum Schutz vor einer Infektionskrankheit eingesperrt werden.

So gesehen braucht man sich dann auch überhaupt nicht zu wundern, wenn pro Dichter mindestens 66 Erklärer und Deuter bereitstehen, die sich der literarischen Texte annehmen, um sie zu erklären und zu deuten. Genauso wenig braucht man sich darüber zu mokieren, dass die Bibliotheken überzuquellen scheinen an immer neuen Arbeiten zu Kafka oder dem Nibelungenlied.

Bücher fordern viele verschiedene Lesarten heraus und manche lassen ihren Leser nach der Lektüre nicht mehr los. Vielleicht haben sie neue Fragen heraufbeschworen, die sich so einfach nicht erklären lassen. Vielleicht haben sie ein Gefühl hervorgerufen, dass sich nicht ganz einfach definieren lässt. Im Leser entwickelt sich ein Drang, diesen Rätseln nachzugehen und schwupp, haben wir eine neue Publikation zu einem bereits viel besprochenen Autor. Menschen verarbeiten ihre vielen verschiedenen Lesarten. (Außerdem brauchen sie Beschäftigung, Herausforderungen. Und wenn jemand nach einer Herausforderung sucht, dann ist ihm egal, ob das Schloss von Kafka schon 300 Mal besprochen wurde. Für ihn selbst wird es die erste Besprechung sein.)

So gesehen ist es verständlich, dass 66 Pädagogen einen Dichter erforschen können. Erzählungen oder Gedichte geben so was auch her. Ein Brötchen kann da nicht mithalten.

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