Die elementare Groteske. Erfahrungen mit Kafka

Mag man Literatur, neigt man dazu, ihre Wirkung zu überhöhen. So auch ich. Aber warum eigentlich? Was können Romane, was andere Texte nicht können? Eine Annäherung an das Potenzial der Gattung mit Kafkas Schloss.

Wie die beiden anderen Romane Franz Kafkas, Der Process und Der Verschollene, ist auch Das Schloss Fragment geblieben. Geschrieben wurde der Text aller Wahrscheinlichkeit nach im Laufe des Jahres 1922. 1926 wurde er von Max Brod veröffentlicht, der entgegen der letzten Weisung seines Freundes handelte und dessen hinterlassenes Werk nicht vernichtete, sondern publizierte. Erzählt wird die Geschichte von K., dem wir bei seinen Bemühungen folgen, das Schloss zu erreichen, wodurch er sich (offenbar) berufliche Anerkennung als Landvermesser und einen Platz in der Dorfgemeinschaft unterhalb des Schlosses erhofft. Er schafft es jedoch nicht. Trotz ungebrochenen Kampfeswillen – denn ein Kampf ist es für K. – kommt er seinem Ziel nicht einmal nahe, eine geheimnisvolle bürokratisierte Behördenstruktur im Schloss hält ihn konsequent auf Abstand und die Dorfbewohner begegnen ihm durchgängig mit Misstrauen und Ablehnung.

Der Text wirft viele Fragen auf, was vor allem an den vielen Dingen liegt, die nicht erzählt werden, z.B. fehlt eine Erklärung dafür, warum K. vom Schloss so abhängig ist. Warum muss er in ein Schloss, um sein Ziel einer gesicherten und anerkannten Existenz zu erreichen? Steht das Schloss für irgendetwas? Steht der Wunsch, als Landvermesser anerkennt zu werden, für irgendetwas? Hinzu kommt eine Reihe an rätselhaften Figuren und bizarren Situationen.

Wer oder was ist das Schloss?

Kafkas Werk ist dafür bekannt, dass es in besonderem Maße deutungsoffen ist, weswegen im Laufe der Jahrzehnte viele Interpretationen zum Romantext entstanden sind. Max Brod etwa hat über Das Schloss eine allgemein religiöse und eine spezifisch jüdische Deutung formuliert. So kann man in der Ablehnung der Menschen gegenüber K. und seiner Unfähigkeit, sich die Deutung der örtlichen Zeichen anzueignen, das Schicksal der jüdischen Gemeinschaft in Europa erkennen, die trotz Assimilierung (und teilweise bis heute) für die christliche europäische Dominanzgesellschaft das Andere und Fremde geblieben ist. Und das Schloss, dessen Zugang für K. verschlossen bleibt, dem er sich nicht einmal richtig nähern kann? Brod wartet mit Superlativen auf: Nach ihm habe man unter dem Schloss das zu verstehen, „was die Theologen ‚Gnade‘ nennen, die göttliche Lenkung menschlichen Schicksals, die Wirksamkeit der Zufälle, geheimnisvolle Beschlüsse, Begabungen und Schädigungen, das Unverdiente und Unerwerbliche, das ‚Non liquet‘ und das Geschenk im Leben aller.“

Ich muss zugeben, dass ich solcherlei auch nach der zweiten Lektüre im Schloss nicht habe erkennen können. Doch es sind immerhin Worte, die die elementare Kraft beschreiben, die der Geschichte zweifellos anhaftet. Erklärt sich daraus die Faszinationskraft dieses Romans?

Zu Lebzeiten Kafkas sein Freund und Förderer, nach Kafkas Tod der Herausgeber seiner Schriften, hat Max Brod die Deutungen von Kafkas Werk über Jahrzehnte hinweg maßgeblich beeinflusst. Nachvollziehen lässt sich das z.B. an der Kafka-Studie Albert Camus‘ von 1943. Der Philosoph schreibt in seiner existenzialistischen Deutung über den Roman, es sei vor allem das „individuelle Abenteuer einer Seele, die ihre Gnade sucht.“

Doch bei diesen Interpretationen ist es bei Weitem nicht geblieben. Georg Lukács hat den Text ebenfalls intensiv studiert, um schließlich erkannt zu haben, dass das Schloss nur ein Symbol für „das Nichts“ sein kann. Und Erich Heller hat ganz genau hingeschaut, bis er in dem alten langsam verfallenden, einst prächtigen Gebäude „die starkbefestigte Garnison einer Abteilung gnostischer Dämonen“ entdeckte.

Googlen Sie mal.

Man sieht, dass, trotz unterschiedlicher Auflösungen des Rätsels Schloss, die Methode ähnlich geblieben ist. Doch lässt sich die Methode durchaus in Frage stellen: Geht es überhaupt darum, eine Allegorie zu knacken? Statt das Schloss als irgendein unerreichbares Ziel menschlicher Bestrebungen zu entschlüsseln, hat es auch Interpretationen gegeben, die im Romantext die Verarbeitung von den Frauenerfahrungen Kafkas erkennen (wie übrigens auch andere Texte des Autors erklärt wurden).

Oder ist das Schloss bloße Projektionsfläche für die Bedrohungen, die der Protagonist an jeder Ecke fälschlicherweise entdeckt, weil er auf eine ihm Widerstand leistende Macht angewiesen ist, um sich profilieren zu können, um überhaupt erst tätig zu werden? Ist Das Schloss die Geschichte eines Kampfes mit sich selbst?

Keine Frage, gerade weil der Roman so beharrlich darüber schweigt, was es genau mit dem Schloss auf sich hat, fühlt man sich als Leser schnell herausgefordert, diese Leerstelle mithilfe der eigenen Gewitztheit auszufüllen. Glücklicherweise gibt es heute das Internet, sodass man nicht dazu gezwungen ist, das Schicksal von K. zu teilen, sollte sich der eigene Intellekt als zu einfallslos erweisen. Wer also heute den Roman liest und sich fragt, was es in Herrgotts Namen mit dem Schloss eigentlich auf sich hat, der wird in der Regel schnell fündig. Passend zu einer Welt, die sich, in Teilen zumindest, durch ein Warenüberangebot charakterisiert, kann man sich eben auch seine Lieblings-Schloss-Deutung aussuchen.

Bei all diesem nachvollziehbaren Verlangen, das vermeintliche Rätsel zu knacken, besteht der größte Fehler jedoch darin, danach stehen zu bleiben. Der Reichtum dieses Romans besteht nämlich nicht im intellektuellen Quizzen. Er offenbart sich – wenn man den Blick weitet – in der verdichteten Atmosphäre, den plötzlichen ironischen Zuspitzungen des Erzählers, den Blicken und Reaktionen der einzelnen Figuren und vielen Einzelheiten mehr. Während der vielen einzelnen Situationen, die K. durchstehen muss, mit immer neuen Enttäuschungen, den vielen Gesprächen, mit denen er sich langsam vortastet, wird uns Lesern die Wahrnehmung K.s beinahe eins zu eins übergestülpt – wir fiebern mit und sind oft so ratlos wie er. In diesen Situationen, den Gesprächen und K.s Umgang damit, seinen durchlittenen Gefühlen, seinem Kampfeswillen, darin liegen die höheren Wahrheiten. Das Schloss kann dabei bleiben, was es ist.

Das lächerliche Gewirre

Ein eindrückliches Beispiel dafür ist das Gespräch, das K. im fünften Kapitel mit dem Dorfvorsteher führt. Lang und ausführlich wird dargelegt, wie es dazu kommen konnte, dass nach einem Landvermesser geschickt wurde, der weder im Schloss noch im Dorf benötigt wird. Missverständnisse zwischen Abteilungen, vereinzelt auch menschliches Versagen und letztlich politische Agonie zwischen verschiedenen Parteien hätten dazu geführt, dass am Ende keiner mehr wusste, ob jetzt ein Landvermesser beauftragt werden sollte oder nicht.

Es ist eine für Kafka typische Szene; er vermittelt uns Lesern auf vielen Seiten, wie der Teufel im Detail steckt. Sorgfältig breitet er diese Details aus, hier mittels eines längeren Berichts des Dorfvorstehers. Irgendwann während des Gespräches unterbricht sich dieser aber und fragt:

„‚Aber (…) langweilt Sie die Geschichte nicht?‘

‚Nein‘, sagte K. ‚Sie unterhält mich.‘

Darauf der Vorsteher: ‚Ich erzähle es Ihnen nicht zur Unterhaltung.‘

‚Es unterhält mich dadurch‘, sagte K., ‚daß ich einen Einblick in das lächerliche Gewirre bekomme, welches unter Umständen über die Existenz eines Menschen entscheidet.‘“

Wenn man will, kann man in dieser kurzen Passage auch eine Unterhaltung zwischen Autor und Leser entdecken, in welcher der Vorsteher für den Autor und K. für den Leser steht. Denn das lächerliche Gewirre betrifft uns auch. Nur können wir es in der Regel nicht durchdringen. Hier allerdings bekommen wir einen Service präsentiert, der darin besteht, dass einmal fein säuberlich aufgezählt wird, welche Faktoren alle eine Rolle gespielt haben, damit eine bestimmte Entscheidung zustande gekommen ist. Und auch, wenn die Entscheidung, ob nun Bedarf nach einem Landvermesser besteht oder nicht, keine Auswirkungen auf unsere Existenz hat, bekommen wir es anhand von K.s Existenz einmal erläutert. Das lächerliche Gewirre. 

Wer kennt sie nicht? Die existenzentscheidenden Beschlüsse, die immense Auswirkungen auf unseren weiteren Lebensweg haben können. Manchmal meinen wir, sie durchblicken zu können und wissen letztlich doch nicht, unter welchen Einflüssen sie zustande gekommen sind, welchen Einfluss wir genau haben ausüben können und welche Rolle der Zufall gespielt haben mag. Der Bericht des Vorstehers ist ausführlich und er ist detailliert. Er ist so ausführlich und detailliert, dass man in der echten Welt nie mit so einem Bericht rechnen darf, wie sehr man es sich auch manchmal wünscht.

Man stelle sich eine Beförderung vor, die weitreichende Auswirkungen auf die eigene Existenz haben kann, z.B. weil sie das Selbstvertrauen stärkt, weil sie finanzielle Sicherheit schafft oder weil sie Spannungen in der Familie löst. Ist die Beförderung gekommen, weil sie verdient war? Heißt ‚verdient‘, dass eine Arbeitshaltung und -leistung gezeigt wurde, die genau für die neue Verantwortlichkeit prädestiniert? Oder war sie eine Folge davon, dass man genau am richtigen Tag zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Blick zur Chefin geworfen hat, woraufhin sich ein zufälliges Gespräch ergeben hat, in dem man von sich überzeugen konnte, weil man an dem Tag zufällig in einer guten Form gewesen ist? Und welche Faktoren haben im Hintergrund alles eine Rolle spielen müssen, damit überhaupt eine Beförderung in Frage gekommen ist?

Weil im echten Leben ausführliche Erklärungen der Art des Vorstehers ausbleiben, neigen wir wahrscheinlich dazu, unseren Einfluss regelmäßig zu überschätzen. Es ist eine Lücke in unserer Wahrnehmung. Größtenteils kann man sich damit arrangieren (muss man ja auch). Es gibt aber auch Situationen, in denen die Unklarheit schmerzt, in denen wir einfach nicht verstehen, warum Vorhaben von uns nicht gefruchtet haben, warum etwas trotz größter Anstrengung nicht geklappt hat. Und hier lässt sich vielleicht eine genuine Spezialität von Romanen sichtbar machen.

Zwar lässt es sich auch in jedem zweiten (Lebens-)Ratgeber nachlesen, ebenfalls bei den antiken Vorgängern, den Stoikern, die schon wussten, dass man sich darüber klar werden soll, worüber man gebieten kann und worüber nicht, woraus der Rat hervorgeht, seine Kräfte auf Ersteres zu konzentrieren und Letzteres zu vernachlässigen. Das ist zweifellos ein kluger Rat und man tut gut daran, ihn zu beherzigen. Doch es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man schlaue Sätze beim Griechen Epiktet liest oder ob man über einen längeren Zeitraum hinweg erlebt, wie es sich anfühlt, wenn einem die Grenzen der eigenen Erkenntnis und des eigenen Handlungspielraums immer wieder aufs Neue demonstriert werden. Erlebnisse dieser Intensivität schafft außer der eigenen Lebenserfahrung nur der Roman. Und wenn man auf die Schriftstellerin Katja Petrowskaja hört, können die Erfahrungen, die die Buchlektüre bringt, diejenigen aus dem echten Leben weit überragen. Im Gespräch mit Volker Weidermann sagt sie: „Wir bestehen aus den Büchern, die wir gelesen haben, viel mehr als aus unseren Biografien. Die konkrete Biografie ist eine Begrenzung, das Lesen eine endlose Öffnung.“

Es ist bezeichnend, dass trotz der vielen Einzelheiten, die der Vorsteher berichtet, der bürokratische Apparat, der über K.s Fortkommen und damit über sein Handeln bestimmt, im Dunkeln bleibt. K. werden vielleicht die für ihn relevanten Puzzlestückchen offenbart, ein erhellendes Gesamtbild ergibt sich nicht. Man erhält Einblick in das lächerliche Gewirre – mehr nicht. Darüber könnte man verzweifeln. Man tut es aber nicht, weil Kafka diese Tragik nicht in einem durchgehend düsteren Ton erzählt, sondern auch mit Humor. Übertreibung, Slapstick, parodistische Zuspitzung ziehen sich durch den Roman und verschmelzen sich mit den schweren Themen, so z.B. in einer Szene aus dem neunten Kapitel.

Das Schwere, schwer Begreifliche – grotesk erzählt

K. hat schon die ersten Bekanntschaften im Dorf gemacht und sein Streben nach dem Schloss konzentriert sich mittlerweile auf die eine für ihn wichtige Person aus dem Schloss, den hohen Beamten Klamm. Damit ist das Scheitern seines Strebens freilich offiziell, denn Klamm ist ein so wichtiger Beamter, dass er noch nie mit jemanden aus dem Dorf gesprochen hat. Warum sollte sich das also bei einem Fremden, als der K. regelmäßig adressiert wird, ändern?

Nachdem ihm nun schon mehrfach mitgeteilt wurde, dass er Klamm nie zu Gesicht bekommen werde, wenn dieser es nicht wolle – es sei schlichtweg unmöglich – geht K. spätabends in den „Herrenhof“, ein Gasthaus, das als Anlaufstelle für die Herren vom Schloss dient und in dem sich Klamm irgendwo aufhalten soll. Natürlich erwischt er ihn dort nicht, denn das wäre ja unmöglich.

Stattdessen trifft er den Sekretär Momus, der für alle Dorfangelegenheiten Klamms zuständig ist und der ihn ganz unverfänglich bittet, ihm ein paar Fragen zu beantworten, damit er seine Akten, ein Protokoll des Nachmittages, ergänzen kann. K., davon unbeeindruckt, lehnt müde ab und will schon gehen, woraufhin die Stimmung im Raum, die bis dahin noch heiter war, kippt. Momus haut seine Akten auf den Tisch und ruft: „Im Namen Klamms fordere ich Sie auf, meine Fragen zu beantworten.“ Es entspinnt sich eine Diskussion zwischen K., Momus und der Wirtin, die K. bereits kennt und die er nicht unbedingt zu seiner Verbündeten zählen kann.

K. hat ein Ziel. Er will Klamm erreichen. Man sollte ja meinen, der Kontakt zu dessen persönlichem Dorfsekretär sollte ihm hilfreich erscheinen. Aber ist er das auch?

Wirtin: „Für diesen Fall mache ich Sie nun also darauf aufmerksam, daß der einzige Weg, der für Sie zu Klamm führt, hier durch die Protokolle des Herrn Sekretärs geht. Aber ich will nicht übertreiben, vielleicht führt der Weg nicht bis zu Klamm, vielleicht hört er weit vor ihm auf, darüber entscheidet das Gutdünken des Sekretärs. Jedenfalls aber ist es der einzige Weg, der für Sie wenigstens in der Richtung zu Klamm führt.“

Der Weg zu Klamm führt demnach nur über den Sekretär, wenn auch mit zweifelhafter Aussicht auf Erfolg: „Aber diese letzte, kleinste, verschwindende, eigentlich gar nicht vorhandene Hoffnung ist doch ihre einzige“, bringt es die Wirtin zu Ende.

Nach wie vor lässt sich K. nicht entmutigen. Er will es vom Sekretär, wie wir Leser ja auch, konkret wissen, ob das Protokoll in seinen Folgen dazu führen könne, dass er vor Klamm erscheinen dürfe, worauf Momus erklärt, dass solche Zusammenhänge nicht bestünden. Es sei ja bloß eine Formsache, nur für die Klammsche Dorfregistratur sollten eben einige Angaben gemacht werden, der Ordnung halber, das sei alles.

K. blickt daraufhin schweigend zur Wirtin, die sogleich dem Sekretär zustimmt. Die Hoffnung, von der sie sprach, bestehe nun mal in einer Art Verbindung, die K. durch das Protokoll zu Klamm haben könne. Ob das nicht Hoffnung genug sei, will sie im Anschluss noch wissen.

Schlag um Schlag wird K. die Unerreichbarkeit seines Strebens klarer und deutlicher vor Augen geführt. Schließlich kommt die entscheidende Frage:

„‚Wird denn, Herr Sekretär‘, fragte K., ‚Klamm dieses Protokoll lesen?‘ ‚Nein‘, sagte Momus, ‚warum denn? Klamm kann doch nicht alle Protokolle lesen, er liest sogar überhaupt keines. Bleibt mir vom Leibe mit euren Protokollen! pflegt er zu sagen.‘“

K. scheint ob dieser Aussagen über das Protokoll und über Klamm eher ratlos als resigniert. Auf eine weitere Nachfrage bricht es schließlich aus der Wirtin heraus:

„Wenn Sie nur nicht immer (…) wie ein Kind alles gleich in eßbarer Form dargeboten haben wollten! Wer kann denn Antwort auf solche Fragen geben? Das Protokoll kommt in die Dorfregistratur Klamms, das haben Sie gehört, mehr kann darüber mit Bestimmtheit nicht gesagt werden. Kennen Sie aber die Bedeutung des Protokolls, des Herrn Sekretärs, der Dorfregistratur? Wissen Sie, was es bedeutet, wenn der Herr Sekretär Sie verhört? Vielleicht oder wahrscheinlich weiß er es selbst nicht.“

So in etwa endet die Szene. Unklarheit, bloß eine leichte Ahnung über die Umstände und die Bedingungen, die hier über sein Schicksal entscheiden – das ist es, was K. hier erfährt. Die Zuspitzung, die in dieser Szene sachte ausgereizt wird, endet in der Groteske. Klamm wird nie das Protokoll lesen, über das hier ewig diskutiert wird. Es werden sich Vermutungen zugeschoben, wie der Weg zu Klamm aussehen könnte – am Ende wissen nicht einmal die Einheimischen, wie er aussieht und ob es ihn überhaupt gibt. Erneut zeigt der Roman, was er kann:

Vermeintlich Widersprüchliches wird miteinander kombiniert und in eine Szenerie gegossen. Die Atmosphäre ist zum einen düster, draußen liegt immerzu Schnee, es ist dunkel und sobald der Disput um das Protokoll begonnen hat, füllt sich der Raum mit einer bierernsten Stimmung, die dem Existenzkampf K.s angemessen scheint. Gleichzeitig liegt das Protokoll, dass für K. die „letzte, kleinste, verschwindende, eigentlich gar nicht vorhandene Hoffnung“ markiert, auf dem Tisch des Sekretärs neben Salzbrezel und Bier. Die Diskussion geht an die Substanz, weil zum einen in der Luft liegt, dass K. endlich einen möglichen Weg zu seinem Ziel gefunden hat, zum anderen aber die Klärung darüber, ob das auch stimmt, immer wieder hinausgezögert wird – bis zur Aussage Momus‘, die auch diese letzte Hoffnung kurzerhand zunichtemacht. Aber nicht mit einem Donnerschlag, sondern mit einer trockenen Erklärung: Klamm liest doch keine Protokolle.

Was sollen wir nun damit anfangen, wenn uns ein Autor schwere Themen, wie z.B. die Ohnmacht der menschlichen Existenz, teilweise ernst, teilweise ironisch und teilweise grotesk darbietet? Ist das eine Aufforderung, die schweren Themen auch mal auf die leichte Schulter zu nehmen, ab und zu ein bisschen zu lachen, um die Tragik erträglicher zu machen? Selbstverständlich nicht. Die Suche nach dem Bestimmten, was ein Text uns mitzuteilen beabsichtigt, führt in den allermeisten Fällen ohnehin in die Irre.

Was die Frage nach dem Potenzial von Romanen angeht, so zeigt sich an der beschriebenen Szene meiner Meinung nach ganz gut, wie literarische Texte über ein erweitertes Repertoire an Darstellungsmöglichkeiten verfügen, als z.B. Texte in Sachbüchern. Der Inhalt wird über weite Strecken nicht mittels einer klaren und kohärenten Argumentation entwickelt, also etwas, was man eine Form der Logik nennen könnte. Man darf nicht vergessen, dass die kühle Klarheit, die wir an diskursiven Texten schätzen, letztlich auch eine bestimmte Form ist. Eine Form, die entlastend sein kann, da sie unserer Wahrnehmung, die sich gerne auch durch Widersprüchlichkeit auszeichnet, eine angenehme, weil logische Struktur zu geben vermag. Demgegenüber ist der Roman aber überhaupt erst dazu in der Lage, die Komplexität und Widersprüchlichkeit unserer Wahrnehmung ansatzweise einzufangen und zu verarbeiten. Er ist daher viel näher an der Art und Weise dran, wie wir die Welt und unsere Existenz in ihr erleben.

Im Schloss bleiben zum einen die Mächte des Schlosses undeutlich, zum anderen bleibt unklar, wie stark der Einfluss auf K. ausgeübt wird oder wie stark er diesen Einfluss selbst (über)interpretiert. Es ist etwas, was sich nicht allein durch wörtliche Erklärung darstellen lässt. K.s Kampf scheitert schließlich nicht an fehlendem Willen, sondern am Unvermögen, zu erkennen, gegen was oder gegen wen er eigentlich genau zu kämpfen hat. Der Nebel lichtet sich für ihn nicht – und somit auch nicht für uns. K. bleibt aber dran. Bis zum Ende des unvollendeten Romans.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert