Vom Ende der Einsamkeit. Ist das guter Kitsch?
Benedicts Wells‘ Vom Ende der Einsamkeit ist ein Buch, das kurz nach Erscheinen 2016 die Bestsellerlisten gestürmt hat. Es hielt sich lange in den Spitzenplätzen und fuhr etliche lobende Kritiken ein. Ein Buch also, dass man durchaus gelesen haben kann, wenn man sich für (einigermaßen) aktuelle deutschsprachige Literatur interessiert. Wells ist seit Beginn seinem ersten veröffentlichen Buch Autor bei Diogenes und Vom Ende der Einsamkeit ist mittlerweile sein viertes Buch, das er dort herausgebracht hat. An dem Roman arbeitete er eigenen Angaben zufolge ca. sieben Jahre.
Gleich vorab: Von den vielen berauschenden Besprechungen sollte man sich nicht den eigenen kritischen Blick vernebeln lassen. Man muss das Buch nicht genial finden, wenn es auch eine schön geschriebene Geschichte ist. Aber worum geht es in dem Buch eigentlich? Werfen wir einen Blick auf den Klappentext:
„Jules und seine beiden Geschwister wachsen behütet auf, bis ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen. Als Erwachsene glauben sie, diesen Schicksalsschlag überwunden zu haben. Doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein.“
Das klingt doch vielversprechend.
„Man, der kann schreiben.“
Solche und ähnliche Urteile findet man oft in den Pressestimmen zu dem jungen Autor. Tatsächlich fällt beim Lesen des Romans schnell auf, dass Wells über ein feines Gespür für treffende Formulierungen verfügt. Komik, aber auch und vor allem berührende und tieftraurige Szenen vermag der Autor an seine Leser zu vermitteln – und das meistens, ohne billige Allgemeinplätze zu verwenden (zu denen es aber gegen Ende dann doch kommt). Ab und zu kommt dann auch mal eine cool formulierte Sentenz dazu:
„Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.“
Das, was beim Lesen passiert und weswegen sich viele Menschen fiktionale Geschichten zuführen, nämlich das Mitfiebern mit den Figuren und das Durchleben ihrer Gefühle, wie sie im Roman expliziert oder impliziert werden – dafür eignet sich das Buch von Wells hervorragend. Das liegt vor allem an seiner sprachlich-feinen Ausdruckskraft. Was ist es aber noch?
Was fesselt uns in Geschichten?
Um es mal ganz nüchtern festzustellen: Die Handlung des Romans konzentriert sich um eine Reihe von Ereignissen, die man als drastische Schicksalsschläge bezeichnen kann. Die Sogkraft, die die Erzählung entwickelt, geht neben der schönen Sprache darauf zurück, dass den Protagonisten extrem schlimme Dinge passieren. Das geht los mit dem tödlichen Autounfall der Eltern, der das Leben der Kinder explosionsartig umkrempelt – von einer behüteten Kindheit zu einem Leben als Waisenkinder in einem (noch dazu tristen und teils heruntergekommenen) Internat. Doch dabei bleibt es nicht. Hat man als Leser den Eindruck, die Kinder hätten im Laufe ihrer Jugend diesen Schicksalsschlag mehr oder weniger hinter sich bringen können, passieren weitere. Sei gefasst auf den schlimmstmöglichen Verlust, könnte eine Botschaft dieses Buches zu sein. An einer Stelle wird in einem Gespräch sogar die Geschichte von Hiob thematisiert. Zufall ist das sicher nicht.
Es geht also um ein paar Menschen, die sich trotz schlimm(st)er Verluste durchs Leben schlagen. Wollen wir sowas lesen? Ja, „sowas“ zieht uns an. Wir konsumieren sowas gerne. (Warum eigentlich? Nun, das muss man mal gesondert betrachten.)
Zurück zum Buch. Neben dieser von Verlust geprägten Handlung gibt es noch ein weiteres markantes Element in diesem Buch, nämlich die Philosophie. Während wir als Leser dem genannten Kernthema folgen, erhalten wir immer wieder mal einen philosophischen Denkanstoß. Gespräche zwischen den Protagonisten oder innere Monologen des Ich-Erzählers kreisen regelmäßig um Fragen wie: Unterliegen wir den äußeren Einwirkungen, denen wir in unserem Leben ausgesetzt sind? Reißen sie uns die Kontrolle über unser Leben aus der Hand, indem sie uns aus unserem „richtigen Leben“ herausführen, um uns ein „falsches Leben“ führen zu lassen? Oder sind und bleiben wir selbst die Bestimmer über unsere Existenz, ganz gleich, was auch passiert? Der Plot führt uns einige der schlimmsten Katastrophen vor, die uns in unserem privaten Leben ereilen können, und spielt diese Fragen sozusagen unter Extrembedingungen durch.
Die Fragen, die sich dem Protagonisten immer wieder stellen, sind diejenigen, die seinerzeit im Existentialismus mit prominenten Thesen behandelt wurden. Jean-Paul Sartre schrieb damals:
„Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.“
Außerdem:
„Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht. Das ist das erste Prinzip des Existenzialismus.“
Ganz ähnlich klingt etwa der Apell von dem mittleren Bruder Marty an seinen kleinen Bruder Jules, dass dieser doch endlich mal sein Leben auf die Reihe kriegen solle:
„Du bist nicht schuld an deiner Kindheit und am Tod unserer Eltern. Aber du bist schuld daran, was diese Dinge mit dir machen. Du allein trägst die Verantwortung für dich und dein Leben.“
Das, worauf Marty Jules hier anspricht, durchzieht sich tatsächlich durch weite Teile des Buches. In seinen stetigen Grübeleien kommt der Ich-Erzähler Jules immer wieder zu dem Schluss, dass er ein falsches Leben führe, und das seit dem Unfalltod der Eltern. Mit anderen Worten: Er ist nicht wirklich glücklich und wird es auch lange nicht. Als er schließlich nach etlichen Jahren seine Seelenverwandte/große-Liebe/Internatsbekanntschaft wiedertrifft, sie und ihren Mann in ihrer neuen Schweizer Heimat besucht und dort eine Weile bleibt – übrigens der beste Teil des Buches – merkt er auf einmal wieder, was es heißen könnte, das richtige Leben zu führen. Und als ihm im Finalteil wieder ein Schicksalsschlag ereilt, geht ihm das Licht auf.
Er hat durch das, was ihm widerfahren ist, „erlebt“, was Sartre im Prinzip irgendwann vor ihm schon theoretisch niedergeschrieben hat, nämlich dass er in Wahrheit selbst der „Architekt seiner Existenz“ sei:
„Ich bin es, wenn ich zulasse, dass meine Vergangenheit mich beeinflusst, und ich bin es umgekehrt genauso, wenn ich mich ihr widersetze. (…) Dieses andere Leben, in dem ich nun schon so deutliche Spuren hinterlassen habe, kann gar nicht mehr falsch sein. Denn es ist meins.“
Wie er dazu kommt? So wie es aussieht verhelfen dem Protagonisten viele Jahre Lebenserfahrung zu dieser Erkentnis. Das kann man sich ruhig nochmal durch den Kopf gehen lassen: Ein Mitt-zwanziger schreibt einen Roman über einen Protagonisten, dessen Leben über mehrere Jahrzehnte erzählt wird, sodass wir durch diese kompromierte Fassung seines Lebens an den Erkenntnissen, die sich aus diesen etlichen Jahren ergeben, teilhaben können.
Es ist keine fiktionale Handlung, die uns Philosophie durch eine spannende Geschichte aus dem Leben nahebringen will. Es ist eine Handlung, die Extremsituationen aus dem Leben unter anderem mit ein bisschen Philosophie reflektiert. Die Verflechtung ist originell und für uns Leser gut verständlich und leicht verdaulich aufbereitet. Tiefe und Komplexität vermeidet der Autor. Das ist an sich nicht weiter schlimm, schließlich wollen wir ja auch einen Roman lesen, seinen Figuren folgen und ihre Gefühle durchleben. Längere theoretische Auseinandersetzung mit philosophischen Problemen kann man woanders durchackern. Doch leider ist fehlende Komplexität nicht auf die philosophischen Anreize des Buches beschränkt. Der Roman ist für den leichten Genuss geschrieben. Die Schicksalsschläge und der Umgang der Protagonisten schockieren nicht, treiben einen nicht um. Sie berühren einen, aber nicht nachhaltig. Man nimmt aufrichtig an ihrem Leiden teil, das Leiden erreicht uns aber sanft und mit genügend Abstand. Was letztlich auch der Grund dafür ist, dass man durch die Handlung einmal durchrauschen kann, ohne einmal länger innehalten zu müssen. Man findet schnell rein, Unklarheiten werden rasch aufgelöst, Rätsel gibt der Plot selten auf.
Man kann das so machen, an manchen Stellen leidet die Geschichte aber darunter, etwa an der ein oder anderen Figur.
Wem sind wir bereit zu folgen?
Der mittlere Bruder Marty wird zu Beginn als Sonderling vorgestellt, sein Verhältnis zu seinen beiden Geschwistern ist, gelinde gesagt, angespannt (O-Ton Ich-Erzähler: „Ich mochte ihn kein bisschen“). Er ist Einzelgänger und seziert als Junge Salamander und Mäuse in seinem Zimmer. Später schreibt er Briefe an einen skandinavischen Brieffreund, den seine beiden Geschwister für eine Erfindung halten. Und im Internat setzt sich sein Wesenszug fort, er bleibt schräg, beschäftigt sich vor allem mit Computerspielen und speziellen Fachbüchern, offenbart aber auch (nur vor der Tante), dass ihn seine Chancenlosigkeit bei Mädchen beschäftigt. Während seines Älterwerdens ist er, wie seine beiden Geschwister auch, angesichts diesen neuen Lebens auf der Suche nach einer Identität, was so schlecht für ihn nicht läuft. Zwar bleibt er zunächst immer noch chancenlos bei Mädchen, ist aber immerhin Anführer einer „Bande von Käuzen und Sonderlingen geworden“.
Die älteste Schwester Liz macht ähnliches durch, geht aber aufgrund ihres Charakters einen völlig anderen Weg. Schon bei den Eltern ein Kind mit dem Zwang, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, verstärkt sich das auf dem Internat und gerät – ohne den elterlichen Halt – außer Kontrolle. Sie nimmt Drogen, bekommt den Ruf als Schulschlampe und verlässt die Schule ohne Abschluss, um dann ein paar Jahre abzutauchen.
Sobald die Internatszeit jedoch zu Ende ist, werden die Charaktere der beiden Geschwister etwas platt, was schade ist. Marty, dessen hohe Intelligenz sich schon angedeutet hat, wird als Start-Up-Unternehmer und Internetpionier bald reich, außerdem fügt er einem Informatikstudium eine Promotion an. Er findet eine Freundin, die an ihrer Dissertation in Psychologie arbeitet. Erzähler:
„Die unglücklichen Internatsjahre schienen seinen Willen geschärft zu haben; aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hatte Marty eine dreistufige Treppe gebaut, die ihn steil nach oben führte.“
Läuft also bei ihm. Und das ist das Problem. Mit Marty wird’s ab jetzt langweilig. Ein paar Jahre, nachdem Jules ebenfalls das Internat verlässt, fahren die drei Geschwister erstmals wieder zusammen in den Urlaub. Nach einer kurzen Aussprache und der spontanen Idee, als zusammenschweißendes Erlebnis gemeinsam LSD zu nehmen, ist aus Marty der verlässliche große Bruder geworden, der bis zum Ende des Buches stets mit guten Ratschlägen bereitsteht und, wenn nötig, seinem kleinen Bruder hilft. Mit ihm hat Wells für zwei Drittel des Buches eine rationale Instanz im Roman-Kosmos installiert, die immer ruhig und sachlich die Dinge erklären kann, wenn die anderen Probleme haben. Ein Zwiespalt, ein Widerspruch in seinem Wesen? Nichts dergleichen. Erzähler:
„Ich betrachte meinen Bruder, der nie sentimental ist oder der Vergangenheit nachhängt, sondern aus jedem Zufall in seinem Leben etwas Eigenes, Besonderes geschnitzt hat.“
Das eine Geheimnis, der eine Kratzer in seinem glattpolierten Charakter wird noch erzählt, mehr aber nicht. Scheinbar hat Marty eine leichte Form der Zwangsstörung: Bevor er irgendwo hingeht, muss er nach einem bestimmten System die Türklinke rauf und runter drücken, damit kein Unglück geschieht. Es wird irgendwann gegen Ende nochmal in locker-seichtem Ton thematisiert, als Jules ihn dabei erwischt – er hat es nämlich verheimlicht, damit sich seine Freundin keine Sorgen macht. Es ist aber gar kein Ding, es macht ja keinem, auch ihm, nichts aus, er kommt gut damit klar.
Leider verhält es sich bei anderen Protagonisten ähnlich. Die älteste Schwester Liz hat ebenfalls ihre Rolle weg. Sie ist diejenige, die keine Beziehung halten kann, immer mal wieder abstürzt oder flieht, wenn’s schwierig wird. Und die spätere Frau von Jules ist die perfekte Mutter, da gibt’s gar keine Diskussion:
„Auf der Couch Alva und die Kinder, aneinandergekuschelt. Sie hatte ihnen vorgelesen, nun alberten sie herum. Ich konnte nie genug davon kriegen, Alva als Mutter zu sehen. Sie traf immer den richtigen Ton, wusste im Gegensatz zu mir genau, wann sie streng sein musste und wann ausgelassen, und sie schien alles geben zu wollen, was ihr selbst verwehrt gewesen war. Die Kinder liebten sie abgöttisch.“
Spätestens hier muss man dann doch mal kurz das Buch weglegen. Ich versteh‘ ja schon: Ich-Erzähler ist sehr verliebt in seine Frau, findet alles toll, was sie macht. Sie haben eine harmonische Familie. Eine Beschreibungen, in denen ein Elternteil seinen Kindern gegenüber alles „richtig“ macht und sich nie „falsch“ verhält – hier hätte man ja nochmal bei jemandem nachfragen können, der Kinder hat.
Alle drei genannten Charaktere kommen irgendwann im Laufe der Geschichte (der eine früher, die andere später) in eine Art Ist-Zustand. Das nervt beim Lesen irgendwann. Menschen sind halt nicht so. Im wirklichen Leben sind wir oft genug völlig irrationale und widersprüchliche Wesen. Und ein Stück weit müssen in Büchern dargestellte Menschen das auch wiederspiegeln, sonst wirkt alles zu gekünstelt, wie in den Filmen, in denen man den Schauspielern manchmal ansieht, dass sie spielen. Irgendwann interessiert uns nicht mehr, was es mit so einer Figur auf sich hat und was sie wohl als nächstes macht.
Ist das schon Kitsch?!
Wann ist etwas eigentlich kitschig? Für solche Fragen haben wir glücklicherweise unsere Literaturwissenschaftlerinnen. Nahc dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft spreche Kitsch die Gefühle an, „biete mühelosen Genuss und Sentimentalität“, er entstehe „aus dem Wunsch nach Harmonisierung und Verschönerung der Welt.“ Wenn wir uns daran halten, kann man es so sagen: Das Buch gleitet irgendwann in den Kitsch ab. Es passieren schlimme Dinge. Die Menschen der Geschichte reagieren entsprechend (sentimental) darauf, erholen sich, es geht weiter. Was hier fehlt, und das vor allem gegen Ende, ist die Ratlosigkeit angesichts der Schicksalsschläge, die widersprüchlichen Gedanken, die uns Menschen zu widersprüchlichen Handlungen hinreißen, weil wir widersprüchlich sind.
Ambivalentes Fazit
Soll man das Buch nun lesen? Das soll jeder selbst entscheiden, wenn die Entscheidung auch angesichts der (sehr) vielen (sehr) positiven Kritiken für die meisten Unentschiedenen vorgeprägt sein dürfte. Die überschwenglichen Besprechungen kann ich jedenfalls nicht nachvollziehen. Vom Ende der Einsamkeit ist ein sprachlich-schönes Stück, das versucht zu unterhalten und an mancher Stelle auch berührt. Die philosophischen Verflechtungen sind interessant. Das ist okay. Wells hat sich Mühe gegeben, seine Leser nicht mit irgendeinem übriggebliebenen Gefühl zurückzulassen. Man kann sich nach der Lektüre getrost anderen Büchern zuwenden, ohne sich mit irgendwelchen Nachwirken der Geschichte befassen zu müssen.
Es sei denn, man schreibt eine Rezension dazu.